Bei dieser Gründung gibt es keinen Exit-Plan. Die Verbraucher-Initiative „Du bist hier der Chef!“ möchte eine gesellschaftliche Transformation schaffen. Und zwar weg von billigen Discounter-Produkten, hin zu fair vergüteten Lebensmitteln von Landwirten. Dafür hat Nicolas Barthelmé gemeinsam mit acht anderen Mitgliedern einen Verein in Eltville am Rhein gegründet. Die Stadt hat letztes Jahr übrigens den Deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen.
Das Konzept, das ursprünglich aus Frankreich stammt und dort inzwischen über 30 Produkte hervorgebracht hat, ist einfach: Verbraucher können auf der Website einen Online-Fragebogen durchgehen, der die einzelnen Aspekte der Herstellung von zum Beispiel Milch abfragt. Stehen die Kühe auf der Weide oder im Stall, was darf‘s denn sein? Am Ende der Umfrage ergibt sich ein Preis, der für die gewählten „Vorlieben“ notwendig ist – inklusive einer garantierten Vergütung für die Milchbauer. Dieser Preis wird als unverbindliche Preisempfehlung sogar auf die Verpackung gedruckt. Die Verbraucher-Initiative „Du bist hier der Chef!“ gewann im vergangenen Jahr mit dieser Idee den „Hessischen Gründerpreis“.
Interview mit Gründer Nicolas Barthelmé
So weit, so gut. Doch welche Herausforderungen gibt es bei der Umsetzung der Initiative? Wie gründet man überhaupt so eine Initiative? Und was bekommt letztendlich der Milchbauer? All das hat uns der in Frankreich geborene Gründer Nicolas Barthelmé im Interview beantwortet.
Nicolas, wie bist Du auf die Initiative in Frankreich aufmerksam geworden?
Ich bin natürlich öfter in Frankreich zu Besuch und war dort einkaufen, als ich die Produkte der Verbraucher-Initiative gesehen habe. Kurz darauf habe ich die Milch im Kühlschrank meiner Eltern entdeckt. Da habe ich sie sofort befragt, was das ist. Das war sehr spannend, weil sie bei dem Fragebogen noch nicht mitmachten, die Milch aber dennoch gekauft haben. Sie haben gesehen, dass das von unabhängigen Verbrauchern kreiert worden ist und sie damit die produzierenden Landwirte unterstützen können.
Warum wolltest Du die Verbraucher-Initiative dann nach Deutschland bringen?
Ich bin seit über 20 Jahren in Deutschland und habe im Marketing und Vertrieb der Lebensmittelbranche gearbeitet. Mir hat das letztendlich nicht mehr ausgereicht. Mit 45 Jahren wollte ich nicht weiterhin Profitzielen hinterherjagen, sondern das Thema Food und Ernährung einmal anders angehen mit einem neuen Ansatz, der mehr Sinn macht und demokratisch ist. Deshalb habe ich vor fast zwei Jahren meinen Job aufgegeben und im Juli 2019 gegründet.
Welche Rückmeldungen erhaltet ihr auf die Fragebögen und von wem?
Wir erreichen ein ziemlich breites Publikum. Das sind einige, die bei dem Thema schon fit sind. Das sind aber auch Menschen, die sich bisher noch nicht so viele Gedanken gemacht haben, wie es den Landwirten dabei geht und wie so etwas abläuft. Manche bedanken sich, weil sie den Fragebogen mit ihren Kindern durchgehen und dabei etwas lernen. Studenten melden sich ebenso, weil sie eine Diplomarbeit über die Verbraucher-Initiative schreiben möchten.
Ihr seid bei „Du bist hier der Chef“ mehrere Gründer. Wie hat sich die Gruppe zusammen gefunden?
Nachdem ich die Idee in Frankreich entdeckt habe, überlegte ich, wie man sie in Deutschland umsetzen kann. Währenddessen habe ich einige Menschen kennen gelernt. Zum Beispiel auch einen ZEIT-Journalisten, der über die Initiative in Frankreich berichtet hat. Unter den Vereinsgründern sind also ein paar Bekannte aus dem Rheingau, aber auch diejenigen, die mich beraten und unterstützt haben. Für die Vereinsgründung brauchte ich mindestens sieben Leute, das ist gesetzlich vorgegeben. Ich habe neun gefragt und neun Zusagen bekommen, die nun ehrenamtlich mitarbeiten. Aktuell führe ich weitere Gespräche mit interessierten Unterstützern.
Wieso habt ihr überhaupt einen Verein gegründet?
Genauer gesagt haben wir ein hybrides Modell an Rechtsformen: den gemeinnützigen Verein und eine UG, die irgendwann zur GmbH werden soll. Der Verein bietet eine Form, die schnell verständlich ist und jeder kennt. Sie bietet unkomplizierte Möglichkeit, Mitglied zu werden und sich zu beteiligen. Der Verein gibt die Richtung vor und in diesem entscheiden wir. Hier findet die ideelle Gestaltung von fairen Produkten statt. Dann sind sie aber erstmal nur auf dem Papier. Die UG dient dann dazu Partner zu finden, den Vertriebsweg zu ebnen und eine Listung in den Geschäften zu bekommen. Unternehmen möchten mit anderen Unternehmen kooperieren. Die eine Rechtsform ist ohne die andere bei unserer Verbraucher-Initiative nicht denkbar.
Feste Vergütung für Landwirte


So setzt sich der gewählte Preis der Milch zusammen.
Wie habt ihr das Projekt anfangs finanziert und wie läuft es jetzt?
Es gibt kein Fremdkapital, das ist uns wichtig. Wir wollen unabhängig bleiben. Den Start habe ich privat finanziert. Das sind ehrlicherweise keine riesen Beträge, aber die Website musste programmiert werden und auch Reisekosten fielen an. Generell finanzieren wir uns über 5 Prozent von der unverbindlichen Preisempfehlung für die Produkte. Bei der Milch, die 1,45 Euro kosten soll, sind das also 7 Cent pro Liter. Das kommunizieren wir auch sehr transparent. Alle Mitglieder wissen wie viel wir verkaufen und somit auch verdienen. Das ist nicht viel, soll aber ausreichen, um die Betriebskosten zu decken und ein Team aufzustellen.
Wie viel erhält denn der Landwirt am Ende?
Wir sichern eine faire Vergütung von 58 Cent für die Landwirte. Das ist vertraglich vereinbart, auch wenn der Handel die Milch für weniger als 1,45 Euro verkaufen sollte. Wie viel die Molkerei und der Handel daran jeweils genau verdienen, wissen wir nicht. An dieser Stelle sind wir als Verbraucherinitiative raus.
Ihr habt eine Kooperation mit „Too Good To Go“, einer App gegen Lebensmittelverschwendung. Worum geht es dabei?
„Too Good To Go“ hat letztes Jahr zu einer ziemlich spannenden Kampagne aufgerufen: „Oft länger gut“ heißt sie. Es geht darum, dass Verbraucher das Mindesthaltbarkeitsdatum von Lebensmitteln hinterfragen sollen. Unter dem Motto „Schauen, Riechen, Probieren“ soll das Produkt zu Hause überprüft werden und weniger weggeschmissen werden. Das ist sehr unterstützenswert. Deren Logo ist auch auf unserer Milch abgebildet. Die Kampagne passt zu unserer Verbraucher-Initiative, denn ich bin überzeugt davon, dass die Lebensmittelverschwendung auch damit zusammen hängt, dass die Produkte in Deutschland zu billig sind.
Welches Verhältnis haben die Deutschen zu Lebensmitteln Deiner Meinung nach?
Deutschland ist Erfinder des Discounts. Die Deutschen sind an niedrige Lebensmittelpreise gewöhnt und auch so erzogen worden, zum Beispiel durch die Preisangebote auf den wöchentlichen Handzetteln. Der Handel ist mit diesem System meiner Beobachtung nach nicht mehr so glücklich, aber die kommen aus der Nummer nicht mehr raus. Der Wettbewerbskampf ist in Deutschland extrem. Das führt dazu, dass Familien mit Landbetrieben Pleite gehen, weil die Preise unter den Produktionskosten liegen. Andererseits wünschen sich die Verbraucher gute Produkte aus der Region. Die Zeit ist also reif für etwas mehr Reflektion und eine Veränderung. Den Preis den wir an der Kasse nicht bezahlen, den zahlen die Tiere und die Natur. Damit sind wir nicht einverstanden.
Diese Transformation ist eine große Herausforderung. Wo siehst Du derzeit eure größte Hürde?
Für dieses Jahr haben wir zwei Herausforderungen. Die eine ist Reichweite zu schaffen. Wir arbeiten ohne bezahlte Werbung und gehen über Social Media. Auf Mundpropaganda sind wir angewiesen. Zum zweiten stellt die Zusammenarbeit mit dem Handel eine Herausforderung dar, weil wir auch darauf angewiesen sind, dass die Händler unser Vorhaben mitaufbauen und darüber informieren. Eigentlich dürfen wir nicht wie jeder andere Lieferant behandelt werden, mit dem man eine reine Geschäftsbeziehung hat.
Fernab von Eurer großen Vision: Wo wollt ihr am Ende des Jahres 2021 stehen?
Wir arbeiten an der Verfügbarkeit der Milch und möchten in neue Regionen vorstoßen. Außerdem möchten wir das zweite Produkte, die Eier, auf den Markt bringen. Damit würde wieder mehr Tierwohl geschaffen werden. Auch der nächste Fragebogen zu Kartoffeln ist in Arbeit.
Wie lief das Krisenjahr 2020 für Euch?
Wir sind zum Teil etwas gebremst worden, weil die Listungsgespräche mit dem Handel im ersten Lockdown gewesen wären. Da haben wir mindestens drei Monate verloren. Es gab andere Prioritäten zu der Zeit, unter anderem, wo sie überhaupt Klopapier herbekommen. Trotzdem haben wir sehr viel Unterstützung und Zuspruch bekommen und als Krönung letztes Jahr auch den Hessischen Gründerpreis erhalten – in der aus meiner Sicht wichtigsten Kategorie „Gesellschaftliche Wirkung“.
Die Teilnehmer des Fragebogens entscheiden demokratisch, wie das Produkt letztendlich zusammengesetzt ist. Bist Du persönlich mit dem Ergebnis der Milch zufrieden?
Die Mehrheit entscheidet bei unserer Initiative und Einzelgeschmäcker können da auch mal überstimmt werden. Ich bin mit dem Ergebnis aber sehr zufrieden. Eingreifen würden wir übrigens nur bei der Vergütung der Landwirte. Die wird ebenfalls gewählt – bei der Milch sind es die 58 Cent. Es gibt drei Stufen der Vergütung: Gängiger Marktpreis, Kostendeckung oder die faire Vergütung. Wenn bei einem Produkt nicht mehrheitlich die faire Vergütung gewählt wird, dann machen wir es nicht. Noch mehr unfaire Produkte braucht es nicht.
Das Interview führte Gesine Wagner.
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